Abb. 1: Marie-Antoinette en Chemise, 1783. Öl auf Leinwand, 89.8 x 72 cm, Schloss Wolfsgarten, Deutschland. Credit Line: Hessische Hausstiftung, Kronberg im Taun



Notes

1 dissident: von einer allgemeinen Meinung, einem Kanon abweichend

2 Flavia Frigeri, Frauen in der Kunst, Zürich: Midas Verlag 2019, S. 26-27

3 Christiane Schreiter, «Élisabeth Vigée-Lebrun», in FemBio. Frauenbiographie-Forschung(https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/elisabeth-vigee-lebrun/ 17.3.2021)

4 Cathérine Hug interviewt von Alexandra Matzner, «Es ist keine Sünde, wenn man sich mit Mode befasst.», in Art in Words 16.5.2017 (https://artinwords.de/catherine-hug-mode-ist-keine-suende/ 17.3.2021)

5 o. A., «Marie Antoinette with a Rose», in Met Museum, 15.5.2016 (https://www.metmuseum.org/art/collection/search/656931, 17.3.2021)

6 Beat Schneider, Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunstgeschichte. Sozialgeschichtlich und patriarchatskritisch, Gümligen: Zytglogge Verlag 1999, S. 247 - 255



Nora Ryser
~ 1 von 1000 Geschichten



Wenn Geschichte einen anderen Fokus setzt
Wenn wir dissidente1 Kunstgeschichten in der Schule vermitteln wollen, müssen wir beginnen, die fehlenden Geschichten, die blinden Flecken, die Lücken aufzuarbeiten und sie des Weiteren in nicht-kanonisierte historische Zusammenhänge zu stellen. Wir müssen diese eine Geschichte um tausende von Geschichten, Perspektiven und Zugängen erweitern und ergänzen. Dieser Text soll ein Anstoss, ein Exempel, ein Versuch dessen sein, wie eine solche Erweiterung aussehen könnte. Dafür wird hier exemplarisch eine Künstlerin aus dem 18. Jahrhundert, nämlich Élisabeth-Louise Vigée le Brun, in den Fokus genommen und versucht, ihre Geschichte, ihr Werk, und der historische Kontext, in dem sie lebte, aus einer Perspektive zu erzählen, die den Fokus aus Frauen legt. Das Erzählen dieser einen Geschichte wird jedoch noch lange nicht reichen, es braucht tausende derer, und sie müssen öffentlich und niederschwellig zugänglich sein, damit sie irgendwann eine Selbstverständlichkeit in unserer (Kunst-)Geschichtsschreibung erlangen können.

Privileg oder Unterdrückung? – Élisabeth-Louise Vigée le Brun
Élisabeth-Louise Vigée le Brun, geboren 1755 in Paris, wurde schon als Kind in ihren Zeichen- und Malfertigkeiten gefördert. Mit 15 Jahren malte sie bereits Porträts der französischen Aristokratie und sorgte so für den Familienunterhalt, ihre verwitwete Mutter und ihren Bruder.

Ab 1778 fertigte sie Porträts von Marie-Antoinette, der Königin Frankreichs, an. 1783 wurde sie durch deren Einfluss in die Académie Royale de la Peinture et de Sculpture aufgenommen.

1789 verlor sie durch negative Presse ihr Ansehen, ihr wurde angehängt, ein Verhältnis mit dem Finanzminister eingegangen zu sein. Im selben Jahr migrierte sie nach Rom aufgrund der Machtübernahme im Rahmen der französischen Revolution. In Frankreich wurde sie als Royalistin des Landes verwiesen, so verlor sie dort ihre Bürgerrechte. 1795 reiste sie weiter nach St. Petersburg, wo sie Kontakte zur Zarenfamilie herstellen konnte und für weitere Porträts engagiert wurde. 1800 wurde ihr Namen von der Emigrations-Liste gestrichen, sie kehrte zurück nach Paris, wo sie 1842 verstarb. 2, 3

Von Hirtinnen und Royalistinnen – Das Werk Vigée le Bruns
Erhalten sind heute ungefähr 860 Gemälde von Élisabeth-Louise Vigée le Brun, darunter befinden sich vor allem Porträts und Landschaftsmalereien, jenes hier abgebildete von Marie-Antoinette ist eines der bekanntesten ihrer Werke.

Marie-Antoinette (1755-1793) war zwischen 1774 und 1793 die Königin Frankreichs. Sie kam den zeitgenössischen sozialen Normen nicht immer nach, gerade mit ihrem Kleidungsstil verstiess sie immer wieder gegen die geläufigen Konventionen in der Mode. In der Porträtmalerin Vigée le Brun fand sie eine Unterstützerin. Am Werk Marie-Antoinette en Chemise (Abb.1) sind die unkonventionellen Ideen der Königin gut abzulesen: Ein Chemisenkleid besteht aus dünner Baumwolle, Mousseline genannt, dessen leichte Transparenz als vulgär galt. Jedoch war es nicht in erster Linie die Erotik, die die Gesellschaft schockierte, sondern die Tatsache, dass die Königin als Oberhaupt des Volkes sich statt in kostbarer, repräsentativer Seide in einem einfachen Baumwollstoff darstellen ließ.

Das Bild musste bei seiner Erstpräsentation im Pariser Salon durch ein konventionelleres ersetzt werden, weil es einen Skandal verursachte.4 Auch das Nachfolgebild war ein Werk Le Bruns, Marie Antoinette à la rose (Abb.2).

Die Komposition des Bildes, die Haltung und der Ausdruck der Königin blieben weitgehend gleich, jedoch trägt sie hier ein elegantes, spitzenbesetztes Kleid und beweist so ihren Anstand.5

Marie Antoinette wurde kritisiert für das Tragen einfacher Kleider, seien es leichte Baumwollstoffe oder in der Darstellung als Hirtin, sie lebte in pompösen Verhältnissen und war bekannt dafür, mehrmals täglich ihre Kleidung zu wechseln. Während sie im Stande war, das einfach Volk durch ihre Kleidung nachzuahmen, war es den Hirtinnen, Mägden, Arbeiterinnen nicht gestattet, sich wie eine Königin zu kleiden.4

Ein Kampf zwischen patriarchalen Positionen – die Aufklärung und die Französische Revolution
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereiten technische Erfindungen, wie der Webstuhl, die Eisenbahn oder die Dampfmaschine, den Weg in Richtung Industrialisierung. Durch die neu organisierte Arbeitswelt entsteht das Industrieproletariat, auch Arbeiter:innenklasse genannt, und gleichzeitig die Klasse der industriellen Unternehmer. Das aufsteigende industrielle und gewerbliche Bürger:innentum, der «Dritte Stand», gewinnt immer mehr wirtschaftliche Macht und drängt nach politischen Veränderungen. Die geistige Bewegung, die dieser wirtschaftlichen Entwicklung entspricht, ist die Aufklärung. Der Fortschrittsglaube und die Idee von «Freiheit», die sich breit machen, sind das Resultat eines Wirtschaftsliberalismus und münden in der französischen Revolution. Das Bürgertum übernimmt die vorherige Machtposition von Adel und Kirche, es hebt die Leibeigenschaft von Bauern auf, ächtet den Sklav:innenhandel und versucht den Staat für seine Interessen zu instrumentalisieren. Es ist ein Kampf zwischen patriarchalen Positionen. Die Forderung nach Gleichheit ermöglicht aber auch die Diskussion um die Geschlechterungerechtigkeit. Stimmen wie jene von Olympe de Gouges (1748-1793), die besagt, dass Unterschiede im Verhalten der Geschlechter auf jahrhundertelange Unterdrückung der Frau zurückzuführen sind, werden laut, jedoch nicht tonangebend. Die Position, die breit akzeptiert und von vielen wichtigen Philosophen der Zeit getragen wird, besagt, dass die Aufgabe der Frau von Natur aus sei, Männer zu unterstützen und ihnen zu unterliegen.

In diesem Zusammenhang entwickelt sich auch das Konzept der bürgerlichen Familie, das die Frau auf ihren Platz im Inneren des Hauses, ins Private verweist. Gesetze, die bis ins späte 20. Jahrhundert bleiben, und besagen, dass Ehefrauen kein Eigentum haben dürfen und von den Bürgerrechten ausgeschlossen sind, werden erlassen.6

Was heute wenig bekannt ist, ist, dass die Französische Revolution gerade in der Anfangsphase vor allem von Frauen angetrieben wurde. Sie forderten Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten, waren in grosser Zahl beteiligt am Sturm auf die Bastille, das französische Staatsgefängnis, protestierten gegen Lebensmittelknappheit. 1789 ziehen ungefähr 7000 Frauen nach Versailles und verhandeln dort erfolgreich mit dem König. Feste Lebensmittelpreise, Brotlieferungen, die Unterzeichnung der Menschenrechtserklärung und die Abschaffung feudaler Privilegien von Klerus und Adel werden erreicht. Ende desselben Jahres noch wird das Wahlrecht für Frauen aber abgelehnt. 1793 werden Frauen von allen politischen Rechten ausgeschlossen und Frauenklubs verboten (das waren Versammlungen von und für Frauen), 1795 verhängt die französische Regierung ein Versammlungsverbot von Frauen.6

Und die Kunst in dieser Zeit?
Die zwischen 1760 und 1830 vorherrschende Kunstströmung, der Klassizismus berief sich auf antike römische und griechische Vorbilder. Die hauptsächlichen Träger dieses Kunststils waren fürstliche Höfe, aber das revolutionäre Bürger:innentum machte sie sich im Verlauf der Zeit zu eigen und instrumentalisierte sie propagandistisch für die revolutionäre Bewegung, die sich gegen Elemente des Absolutismus auflehnte. Durch die Verbreitung aufklärerischer Werte findet ein Abkehren vom Überschwang und Luxus der vorangegangenen Kunststile, dem Barock und dem Rokoko, und eine Hinwendung zu Klarheit und Ordnung statt. Kunst und Kultur hatten die Aufgabe, ein rationales gesellschaftliches Selbstverständnis widerzuspiegeln.6

Die Neustrukturierung der Gesellschaft, die auf die französische Revolution folgte, erforderte auch andere Bauten: Regierungsgebäude, Verwaltungsbauten, Justizpaläste, aber auch Bibliotheken, Schulhäuser, das öffentliche Kunstmuseum und Theater entstanden. Geraden und betonte Symmetrien, charakteristische Elemente der Antike, lösen die schwungvollen Linien und Ornamente ab, die davor im Barock sehr verbreitet waren. Rechte Winkel und Kreisformen finden neu Verbreitung, repräsentative Häuser, wie Banken oder Regierungsgebäude, bedienen sich griechischer Tempelformen, das heisst, die Bauten orientieren sich an der Schlichtheit und Klarheit der Antike, die Dekoration ist massvoll im Gegensatz zu den Bauten aus dem Barock.

Ende des 18. Jahrhunderts tritt vor allem in Frankreich die sogenannte Revolutionsarchitektur auf. Das Panoptikum, ein Überwachungsbau, bei dem von einem Punkt aus alles ins Auge gefasst werden kann, und der vor allem bei Gefängnissen, aber auch bei Fabriken Verbreitung findet, entsteht. Dahinter ist eine wirtschaftlich kapitalistische Motivation festzumachen, die Arbeiter:innen müssen überwacht und so zu Produktivität gezwungen werden können. Solch totalitäre und monumentale Bauten eignen sich zur Repräsentation von Macht und somit auch von autoritären Weltanschauungen, daher erstaunt es nicht, dass in späteren totalitären Regimes im 20. Jahrhundert, zum Beispiel in Italien und Deutschland, auf klassizistische Bauten zurückgegriffen wurde.6

Es gibt noch viel zu tun
Wie in der Einleitung zu lesen, fungiert dieser Artikel exemplarisch. Einerseits, weil nur an einigen wenigen beispielhaften Elementen eine historische Entwicklung aufgezeigt wird, wie der Auswahl der Künstlerin, oder der beiden Gemälde, dem Fokus auf der französischen Revolution, oder der einhergehenden architektonischen Entwicklungen. Andererseits soll dieser Beitrag auch beispielhaft gelesen werden, als dass er Brücken andeutet, die es noch zu schlagen gilt: Nun könnten Artikel folgen zum Thema Mode, und ihren körperformenden und mitunter unterdrückenden Mechanismen, oder zu den totalitären Regimes im 20. Jahrhundert, zur Porträtmalerei und deren Statussymbol-Funktion, zu anderen Kunstentwicklungen in Revolutionszeiten, es könnte einen Artikel geben über die Aufklärung und ihre bis heute prägenden Wertvorstellungen, einen über den Sklav:innenhandel in Europa oder anderswo, einen über das Frauen-Wahlrecht, über Überwachungsbauten, kapitalistische Entwicklungen im Kunstmarkt, und unendlich viele mehr. Es bleibt noch viel zu tun.