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Ernestyna Orlowska ~ Gedankenexperimente als kunstgeschichtliche Reflexionsmethode



Wie wäre es, wenn wir im kunsthistorischen Diskurs Gedankenexperimente als Methode einführen würden, um aktuelle Mistände besser erkennen zu können? Gedankenexperimente als Methode für die Hinterfragung der Kunstgeschichtsschreibung und Kanonisierung.

Hier ein Beispiel:

Eines Morgens betrat die Putzequipe des Kunstmuseums Bern durch den Hintereingang das Gebäude. Es war kalt und noch dunkel. Sie zogen sich in der Garderobe um, füllten die Kübel mit Wasser und Spezialseife. Sie sprachen nicht miteinander, sie waren von verschiedenen Migrationshintergründen und sprachen alle nur schlecht Deutsch. Zu schlecht um sich früh am morgen, wenn die Kinder noch im warmen Bett schliefen, unterhalten zu wollen. Sie betraten die Ausstellungsräume. Sie erstarrten. Die Räume waren komplett leer. Sie durchschritten alle Räume.

Doch wirklich: Leer. Wie ist das möglich? Gestern hing und stand alles noch. Keine Spur von dicken Verpackungen wie sonst üblich, wenn eine Ausstellungsumbau bevorstand. Ah nein, nicht ganz leer. Hier hinten in der Ecke ist noch eine kleine Skulptur von Louise Bourgeois. Soft Landscpae II von 1967 lag da einsam auf einem kleinen Sockel. Ah und da drüben. Zwei Bilder von Meret Oppenheim. Unter der Regenwolke von 1961 - 1964 und Verzauberung von 1962. Ah da auch noch was von Clara von Rappard, Seele, Brahmane (nach Goethe). Und auch noch Stebler-Hopf, Annie, zwei Bilder, Stettler, Martha, drei Bilder und ein Bild von Sophie Täuber Arp. Ok, 8 Bilder und eine Skulptur sind noch da. Die anderen 131 Werke aus der Sammlungsausstellung: Weg! Spurlos verschwunden! (Ich habe auf der Website von Kunstmuseum Bern im PDF zur aktuellen Sammlungsausstellung nachgezählt, Stand 8. April 2021)

Die Putzequippe eilt ins Lager. Fuck! Alles nur leere Polsterfolienverpackungen die da schlapp in den Regalen liegen. Alle zu alarmierenden Personen werden alarmiert, die Direktorin des Museums, die Polizei, der Nachrichtendienst des Bundes, das FBI... denn es stellt sich heraus das auf der ganzen westlichen Welt über Nacht (jetzt wird es schwierig mit der Zeitverschiebung) das gleiche passiert ist: Alle Kunst die jemals von weissen Männern hergestellt worden ist, ist spurlos verschwunden. Die Stadtgalerie Bern ist nicht betroffen, denn da stellte gerade eine Frau aus. Afrika und Asien und Co haben ihre Sachen auch noch.

Atelier Brancusi in Paris: Leer. Die Picasso Museen in Barcelona, Paris, Malaga, Münster: Uh, besonders leer. Da fehlen sogar die Wände. Die mussten offenbar gleich mitverschwunden werden. Aber nicht nur die Kunst ist spurlos verschwunden: Auch die vielen Bücher über all diese Kunst, es gibt sie zwar noch, aber alle Worte daraus sind verschwunden. Leere Bücher. Was machen wir mit all diesen leeren Büchern? Als Skizzenbücher an Schulen verteilen? Jetzt können wir literally die Kunstgeschichte neu schreiben, bemerkt jemand zynisch. Die Internetseiten: Leer. Wikipedia: Leer. Die Server im Silicon Valley kühlen aus und erfrieren fast, so sehr ist das Datenvolumen geschrumpft. Die Erinnerungen an diese Kunst in den Hirnen der Menschen: Schummrig farbiger Dunst und ein eigentümlicher säuerlich-süss-salzig-bitterer Erinnerungsgeruch ist alles was zurück bleibt. Die Ateliers, die Skizzenbücher, die Kirchen, alles leer. Oder sogar ganz weg!

Der Herr hats gegeben, und ist er es, der es wieder genommen hat? Stand nicht in der Bibel im Apokalypse Kaptitel ganz hinten mal so was von einer Entrückung? Auf einen Schlag werden alle guten Christen in den Himmel entrückt, ohne durch die Tür des Todes gehen zu müssen. Hat der Herr sich geirrt? Hat er statt der guten Christen und Mormonen und Zeugen Jehovas and what not die Bilder der schönen pummeligen weissen von weisser Männerhand gemalten  Frauen zu sich in den Himmel genommen?  Ah Moment, ein Logik Fehler, ich weiss ja gar nicht mehr was er mitgenommen hat. Etwas das in der grossen Vielzahl war, fehlt jetzt. Aber fehlt uns wirklich was? Oder haben wir nicht etwas bekommen? Ganz viele neue leere Räume?

Die grosse kollektive Teil-Amnesie. Wir können uns neu erfinden. Oh Gott. Oh „Gott“. Oh „Göttin“. Ich ahne Schreckliches. Will History repeat itself?

Ich höre hier mal auf. Es macht aber Spass so herum zu spinnen. Vielleicht ist nicht alles verschwunden sondern einfach weiss überstrichen worden. Blessed are those, die Kunst und Restaurierung studiert haben. Denn die haben jetzt Arbeit. Falls Arbeit ein Segen ist, denn diese Frage ist nicht abschliessend beantwortet, immer wie mehr wird der Wert und Nutzen der Arbeit in Frage gestellt.

Jedenfalls haben die Restaurator*innen alle Hände damit zu tun, diese Gemälde wieder frei zu legen. Aber oh Schreck, darunter kommen nicht die Originale hervor. Sondern irgendwelche neuen Bilder. Zum Beispiel ist jetzt die Venus ein Mann (siehe weiter unten, die Arbeit von Sara Terry)  Aber das können die Menschen ja gar nicht wissen, den wie gesagt, können sie sich nicht erinnern. Sie meinen dass das jetzt immer schon drunter war. Jetzt bin ich doch wieder ins fabulieren gekommen.

Die Frage ist jetzt: Was bringt das kunsthistorisch? Ist das nur Unsinn? Ich behaupte: Durch solche Storys wird die unsichtbare strukturelle Ungleichheit und Ungerechtigkeit sichtbar. Die Kontingenz der Geschichte der Menschheit und damit der Geschichte der Kunst wird entlarvt. Es könnte alles ganz anders sein. Wie sind wir an diesen Punkt gekommen? Mein Szenario wird höchstwahrscheinlich nicht eintreffen. Aber wir könnten uns davon inspirieren lassen.

Denn wer sagt uns, dass die offizielle Geschichtsschreibung nicht selbst eine Fiktion ist? Eine White Male Fantasy of Supremacy and Disembodied Knowledge? Die unter anderen Umständen ganz anders aussehen könnte? Durch das Schreiben von Fiktionen können wir die Misstände in den realen Zusammenhängen besser erkennen. Wieso hat das Kunstmuseum Bern von 140 Werken nur 9 Werke von Frauen ausgestellt? Das ist eine Frauenquote von 6%. Wie kam es dazu? Was hat der Kapitalismus, die Akkumulation von Kaptial und die Unterdrückung der Frau damit zu tun? Wäre es sehr ungerecht wenn alle Männerkunst und die Erinnerung daran verschwinden würde, oder wäre das eine Art übernatürliche Gerechtigkeit, die da zurück schlägt? Wie würden wir die Räume neu füllen? Hat das Kunstmuseum Bern noch genug Werke in der Sammlung übrig, um die grosszügigen Räumlichkeiten mit der „Frauenkunst“ zu füllen? (Auch so ein Unwort. Machen die Männer Kunst, ist es Kunst, machen die Frauen Kunst, ist es „Frauenkunst“. Mir wird schlecht. )

Keine Ahnung was da vorher drin war, aber lass uns drüber reden, was da jetzt alles drin sein könnte! Was wollen wir eigentlich? Und wer ist dieses wir? Bezieht das die Flüchtlingsfamilie nebenan auch ein? Soll es oder soll es nicht? Nein Entschuldigung, ich kann nicht etwas gut finden, dass ihr auch gut findet, schliesslich muss ich mich ja durch meinen Geschmack einer gesellschaftlichen Schicht/Gruppe/Klasse als zugehörig erweisen, gemäss Michel Bourdieu, und das muss sich dann schon von euch abgrenzen, gell.

Der Mere Exposure Effect würde zusammen mit der Erinnerung ausgehebelt werden. (Mere Exposure Effect, wenn man etwas nur oft genug sieht, findet man es gut und schön).

Es gibt noch viele Spekulationen zu spekulieren. Wie würde unsere Kunstgeschichte aussehen, wenn Männer diejenigen wären, die die Kinder auf die Welt bringen? Wenn Menschen keine Hände hätten, sondern nur Flossen? Wenn Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft wie Gottheiten verehrt werden würden?

Stellen wir uns vor, wir hätten bedingungsloses Grundeinkommen... würde die Arbeiterklasse die Kultur demokratisieren wollen, würde das die Spaltungen in der Gesellschaft zwischen rechts und links schliessen? Würden wir linksintellektuellen kosmopolitischen Kulturheinis, die mehr Interesse an Gleichgesinnten aus der selben Klasse aus anderen Grossstädten haben, als an unserem Nachbar, der sein Leben lang geschuftet hat, wären wir dann eher fähig mit diesen Nachbaren einen Dialog zu führen? Eine Gemeinschaft zu bilden?

Und ich würde auch noch gerne eine Kunstgeschichte sehen, die von Kindern ausgewählt wurde, oder von Menschen mit Beeinträchtigung! Die Venus hätte dann nur einen Fuss, dafür eine lustige Krücke. Hmm eigentlich eine gute Idee, können wir die Bilder vielleicht politisch korrekt bzw. repräsentativ für die Gesellschaft ummalen? Umgestalten, die Skulpturen? Kunstgeschichte Version 2.0. heisst: Wir setzten den Korrekturstift an. All diese nackten Frauen, die da dargestellt sind, die brauchen andere Körper, andere Hautfarben, andere Schönheiten, mindestens ein paar davon sollten ein Gebrechen oder eine Behinderung haben. Oder wie wärs mal mit Kleidern? Oder einem anderen Geschlecht?

Was passiert mit den Werken die bisher kanonisch waren und die einfach leider keinen Platz fanden, weil wir keinen Bock mehr darauf hatten? Haben wir sie entartet? Sind wir Kunstgeschichtsnazis geworden? Es ist wohl besser, niemand hat diese Macht, denn sonst würde es ausgehen wie im Film Dog Tooth.

Wenn wir diese eigene Kunstgeschichte unseren Schüler*innen weitergeben, und Dinge aus dem Kanon auslassen, was für Problematiken bringt das mit sich? Im monströsen Film Dog Tooth von Giorgos Lanthimos, wachsen 3 Kinder von der Umwelt isoliert auf und ihnen wird absichtlich ein verqueres Weltbild vermittelt. Der Sessel ist das Meer. Hauskatzen sind sehr gefährlich. Sex unter Geschwistern normal. Der Film vermittelt die Konstruktion der Realität.

Wir wollen natürlich die “originale” Kunstgeschichte nicht ignorieren, aber wir legen unsere eigene daneben und oha, finde die 7 Millionen Unterschiede, und ehm, was fällt dir auf?

Die Kunst von Sara Terry ist diesem spekulativen, approriativem Geiste nahe. Ich möchte hier ein Werk hervor heben aus einer Reihe von klassischen Malereien, die sie fotografisch neu interpretiert hat.

Dazu das wunderbare Statement der Künstlerin aus dem digitalen Ausstellungskatalog Her Take, (Re)thinking Masculinity, Photomuseum Pasquart, 2020

(Re)Thinking The Birth of Venus