Abb.1: Screenshot des Miroboards aus dem Modul Kunstgeschichte Transfer

Notes

1 Die Künstlerin Florence Jung im Gespräch mit Dominikus Müller. http://performanceprocessbasel.ch/journal/new-entry

2 Florence Jung: Die Spuren des Nicht-Greifbaren. Text von Katrin Bauer auf artline.org/2020/03/16/florence-jung

3, 4 Florence Jung: Die Spuren des Nicht-Greifbaren. Text von Katrin Bauer auf artline.org/2020/03/16/florence-jung

5 Das unheimliche Kunsthaus an der Hardstrasse. Von Naomi Gregoris auf https://www.tagblatt.ch/kultur


Viviane Stucki
~ Florence Jung: Räume für Spekulationen / Erfahrbarkeit in der Kunstgeschichte



Über Florence Jung zu schreiben ist nicht ganz einfach, was vor mir schon einige Schreibende festgestellt haben. Es existieren kaum Ausstellungsdokumentationen oder Fotos. Besucht man ihre Webseite, kann man lediglich ein grosses Pdf downloaden und darin einige Pressetexte und Interviews lesen. Man könnte denken, dass die Abwesenheit ihrer Kunst ihre Kunst ist. Das zeigen und laut sein ist nicht ihr Ding und es ist nicht nur nicht ihr Ding, sondern es wird ganz bewusst zum Konzept. Das Gefühl, welches man beim Besuch der Ausstellung im Helmhaus hat, nämlich ein diffuses, nicht einzuordnendes, erhärtet sich ebenfalls als Teil der Arbeit von Jung. In verschiedenen Interviews wird sie immer wieder in die Ecke der Performancekunst ge- drängt, wogegen sie sich oft kritisch äussert: «Ich weiß nicht, ob das, was ich tue, Performance ist. Ich fühle mich nicht angesprochen von Performancekunst. Ich möchte die Dinge vereinfachen. Ich will wissen, was geschieht, wenn man das Objekt — den sichtbaren Teil und auch die Dokumentation — und dann vielleicht auch die Präsenz des Künstlers bewusst ausklammert. Ich werde deutlich stärker vom Minimalismus als von den meisten Performancekünstlern beeinflusst.»1

Abb.1 und 2

Sie spricht also von keinem Medium als ihr Medium, von der Abwesenheit als Anwesenheit, also dem Ver- schwinden als Präsenz und dass das ganz zu einer Art Obsession wird. Für Florence Jung sind leere Räume nicht bloss Räume ohne Inhalt, sondern Orte für Projektionen und Imagination. Ihre Werke sind offene Szena- rien, unvorhergesehene Situationen und Entwicklungen, die nicht selten mit Überraschungen versehen sind. Dass sie oft nicht selber an ihren Vernissagen teilnimmt ist ein weiteres Indiz für die Thematik der Präsenz durch Abwesenheit. Manchmal lässt die Besucherinnen gleich selber einen Teil der Performance werden, unwissend oder selbst entschieden. So hat sie auch einen Galeristen dazu gebracht, eine gefälschte Rolex zu tragen oder hat Securitas angehalten, die Kleidung mit Besuchenden zu tauschen. Unterschiedlichs- te Strategien, die die institutionellen, kontextuellen und normativen Vorgaben berühren und sich mitunter selbst am Rande des Rechts bewegen sind also Werkzeuge von Florence Jung. Die von ihr konstruierten Situationen fordert das Kunstpublikum zum Handeln heraus, über das Handeln wiederum werden die syste- mischen Verstrickungen deutlich, die selbst den Widerstand spiegeln.

«Die Fake-News-Debatte hat die gegenwärtige Berichterstattung grundlegend verändert. So sehr, dass zum Beispiel museale Institutionen – anstelle von Zeitungen – vermehrt als vertrauenswürdige Informationsquel- len Anerkennung finden».2 Das Phänomen der Fake-News kennen wir alle und ertappen uns mal mehr mal weniger dabei, Dinge zu glauben und Dingen kurzzeitig zu folgen, ohne eine grosse Ahnung davon zu haben oder es zu hinterfragen. Dennoch kennen wir auch das diffuse Gefühl, nicht sicher zu sein und den- noch nichts zu sagen. Gehören wir dann noch dazu? Welcher Strömung möchte ich meine Anhängerschaft schenken, welchen Menschen vertraue ich? Wo lauert der Fake und wann erwache ich auf und wann platzt die Bubble? Meiner Meinung nach schafft Florence Jung, insbesondere mit dem Werk im Helmhaus, ein wichtiges Stück zeitgenössische Kunst. Ohne sichtbare Zeigefinger und laute Parolen erzeugt sie bei den Besuchenden ein nachhaltiges Gefühl von Wachsamkeit und einer kritischen Selbstbetrachtung.

Abb. 3, 4, 5

Nahtlos fügen sich extra erbaute Wände über zwei Stockwerke hinweg in die vorhandene Architektur des Helmhaus Zürich ein. Endloses Weiß, dazwischen einige Türen. In jedem Raum eine Überwachungskamera. Wer überwacht hier wen? Gleich zu Beginn erhalten die Besucherinnen und Besucher durch das Empfangs- personal ein kleines Buch, welches als eine Art Anleitung durch die Ausstellung dienen soll. Um die erst verschlossenen Tür zu passieren, hat man einzeln auf einen schweigenden, in die Leere blickenden Mann zuzugehen. Ein Umkehren erlaubt die Wegführung nicht.

«Jungs Ausstellung investiert nicht in Material, sondern in das Menschsein».3 Während man den ersten Teil der Ausstellung nur alleine betreten kann, löst sich der Zustand der Vereinzelung in den darauffolgenden Raumsituationen immer mehr auf, sodass ein gemeinsames Erforschen der auf eine unergründliche Weise bedrohlichen Umgebung notwendig wird. Damit fordert die Ausstellung ein kollektives Handeln ein, lässt jedoch auch Verunsicherungen zwischen den Besucherinnen und Besuchern entstehen. Das Verschieben von Machtverhältnissen ist dabei ein weiteres zentrales Element in Jungs künstlerischer Praxis: „Ihre Arbeiten bringen Seiten von uns zum Vorschein, die wir nicht so mögen. Sie konfrontieren uns latent mit unseren Neu- gierden und Schwächen“, so Kurator Daniel Morgenthaler.4 Dass die Produktionskosten der ausstellungs- begleitenden Publikation durch den Verkauf von gesammelten Daten vorheriger Besuchenden, beglichen werden, zeigt auf, wie sich die unsichtbaren Machtgefüge in Jungs Praxis unterschwellig ohne unser Wissen auswirken. Dieses Verschwimmen institutioneller Grenzen dezentralisiert zum einem das Helmhaus Zürich als schein- bar legitimen Ort zur Erfahrung von Kunst und zum anderen sucht nach einer Auflösung der Au- torinnenschaft. Es geht nicht darum, dass Florence Jung hinter ihren performativen Kunst- werken hervortritt und uns diese erklärt. Vielmehr liegt es an uns, den Raum mit Spekulationen auszufüllen. Der zweite Teil der Ausstellung bestand aus einer Plakatkampagne in der ganzen Stadt Zürich. Mögliche Szenarien sollten Be- trachtende zum nachdenken anregen.

Dass die Produktionskosten der ausstellungsbegleitenden Publikation durch den Verkauf von gesammelten Daten vorheriger Besuchenden, beglichen werden, zeigt auf, wie sich die unsicht- baren Machtgefüge in Jungs Praxis unterschwellig ohne unser Wissen auswirken. Dieses Verschwimmen institutioneller Grenzen dezentralisiert zum einem das Helmhaus Zürich als schein- bar legitimen Ort zur Erfahrung von Kunst und zum anderen sucht nach einer Auflösung der Autorinnenschaft. Es geht nicht darum, dass Florence Jung hinter ihren performativen Kunst- werken hervortritt und uns diese erklärt. Vielmehr liegt es an uns, den Raum mit Spekulationen auszufüllen. Der zweite Teil der Ausstellung bestand aus einer Plakatkampagne in der ganzen Stadt Zürich. Mögliche Szenarien sollten Betrachtende zum nachdenken anregen.

Während bei all den verfügbaren News und Fake-News, dem unendlichen Wissen und Ratgeberliteratur eine zunehmende Abstumpfung zu beobachten ist, schafft das Werk von Florence Jung eine Art reale Konfron- tation mit der gegenwärtigen Thematik. Es steht für ein Phänomen, welchem wir ausgesetzt sind und uns nur schwerlich entziehen können. Bis auf wenige True- man-Show-Momente machen wir alle nicht viel da- gegen, wo sollte man schon damit beginnen? Oder sind wir tatsächlich schon längst in einem immer stärker werdenden Selbstreflexions- und dadurch Optimierungszwang? Ist Entzug überhaupt möglich?

Letztlich bleibt das Gefühl davon, erschreckend einfach manipuliert und entlarvt worden zu sein. Jung schafft es mit ihrem Werk auf eine Weise, bei der unser antrainiertes Schutzschild, unser Filter für einen Moment ausser Gefecht gesetzt wird bevor wir uns aktiv entziehen können. Und falls man es dann nicht aushält, kann man ja diese Nummer anrufen.

Müsste man Florence Jung nun doch in eine Kunstschublade stecken, wie es auch schon einige Kunstkriti- ker*innen getan haben, wäre es wohl trotz ihrer Aussagen die Performance-Ecke. Da sie selber nicht sichtbar in der Performance auftritt oder ein physischer Teil davon ist und auch danach nicht erscheint, wird sicher der Begriff «ephemer» wichtig. Sie selber spricht immer wieder von der Unsichtbarkeit und de spürbaren Ab- wesenheit, gar vom Gegenteil, was herkömmliche Performancekünstler*innen machen. Ich sehe einerseits einen Bezug zur Graffitikunst, wobei es um ähnliche Themen wie bei Florence Jung geht. Es werden nicht nur die Grenzen der Legalität ausgelotet, sondern auch Gruppengefüge geschaffen, über Zugehörigkeit und Rangordnung nachgedacht und mit Pseudonymen gearbeitet.

Abb. 6, 7

Zudem gibt es einige Performancekünstler*innen, welche ihre Arbeiten nicht selber verkörpern, sondern be- wusst andere Menschen performen lassen. Vanessa Beecroft ist nur eine davon und setzt sich ebenfalls mit Gesellschaftskritischen Themen auseinander und auch ihre Sujets schilderten unterschiedliche Zustände von Existenz oder Wirklichkeit. Eine andere, noch sehr junge Künstlerin, welche auch sehr stark mit der räum- lichen «Umnutzung» arbeitet, mit der Leere als Fülle und mit dem Unbehagen als Bestandteil ihrer Werke, ist Rebecca Kunz. Mit ihrer Arbeit «Haus Hardstrasse 43» verwandelte sie ein leer stehendes Haus in ein begehbares Kabinett. «Denn Kunz schafft bereits hier den so schwierigen Spagat der Kunst: eine räumliche Übersetzung des Unaussprechlichen. Das Sehen ist nur der Wegweiser, eigentlich geht es um das, was wir gerade nicht sehen: Woran erinnert uns dieser Raum? Wieso fühlt es sich an, als würden wir eine Grenze überschreiten? Unrechtmässig einem intimen Moment beiwohnen? Oder einem Verbrechen? Wie hängt das mit unserem Realitätsempfinden zusammen? Mit dem innigen Bedürfnis, alles zu rationalisieren?»5 

Abbildungsseite

Realitätsempfindungen nehme ich gerne als Stichwort auf und würde hier auch meinen persönlichen An- spruch an die Kunstgeschichte anknüpfen. Theorie und Kunst ist für mich grundsätzlich schwierig zu ver- knüpfen. Gewiss kann man viel über ein Thema lesen und die Vergangenheit können wir ja nicht mehr er- leben. Dennoch ist für mich die eben genannte Empfindung in einem realen Raum ein zentraler Bestandteil des Kunstgeschichtsunterrichts. Obwohl ich ein Designfach unterrichte und es dabei weniger um geschicht- liche Aspekte geht als um neu zu erschaffende Kreationen, versuche ich stets, aktuelle oder geschichtliche künstlerische (oft in der Soziologie verankerte) Themen einzubetten. Die Erfahrbarkeit ist nicht immer phy- sisch zu erreichen, wobei ich diesen Begriff aber ausdehnen würde. Die Verknüpfung von weit zurückliegen- den Themen mit aktuellen Ideen, Strukturen, Strömungen, finde ich äusserst wichtig. Manchmal ist es ein Dockfilm, einen Zeitungsartikel, ein Text oder dann eben eine aktuelle Ausstellung, die diese Erfahrbarkeit ermöglichen.

Am Anfang dieses Textes habe ich über Fake-News und Optimierung gesprochen. Wir leben in einer Zeit der absoluten Digitalisierung und des Second Life‘s im Internet. Was bedeutet heute Erfahrbarkeit? Was ist real? Wo können wir uns an echte Empfindungen binden? Ich finde diese Fragen sehr wichtig und habe deshalb Florence Jung gewählt. Ich möchte nicht sagen, dass ich einen «Sensations-Kunstunterricht» machen, wo es um Ereignisse geht und Spektakel. Dennoch wäre oder ist mir die Verknüpfung zu realen und persönlichen Räumen und Erfahrungen enorm wichtig und ich glaube, dass Wissen dadurch nachhaltiger haften bleibt. Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen und konnte als Kind alles mögliche direkt vor der Haustür erfahren und erleben, ich kann mir nichts schöneres vorstellen.