Abb.1: Screenshot aus Donna Haraways Vortrag über ihr Buch „Staying with the Trouble“.

Notes

1 Open Transcripts, http://opentranscripts.org/transcript/anthropocene-capitalocene-chthulucene/, Zugriffsdatum: 05.05.2021.

2 Donna J. Haraway, Staying with the Trouble, Duke University Press Durham and London, 2016.

3 ada, https://adanewmedia.org/2013/11/issue3-haraway/, Zugriffsdatum: 05.05.2021.

4 The Institut of Figuring, https://theiff.org, Zugriffsdatum: 05.05.2021.

5 Margaret Wertheim, https://www.margaretwertheim.com/crochet-coral-reef, Zugriffsdatum: 05.05.2021.

6 Biotop der Relevanz, https://biotopderrelevanz.com, Zugriffsdatum: 05.05.2021.

7 Gespräch mit der Künstlerin und Initiatorin des Projekts Claudia Schildknecht, https://www.claudiaschildknecht.com, Zugriffsdatum: 05.05.2021.

8 rrreefs, https://www.rrreefs.com, Zugriffsdatum: 05.05.2021.

9 Marie Griesmar, https://www.mariegriesmar.com/modules, Zugriffsdatum: 05.05.2021.

10 Ulrike Pfreundt, Meeresbiologin mit Mission, https://ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2019/05/portraet-ulrike-pfreundt.html, (09.05.2019).

11 Download, print and save the reef!, 
https://ethz.ch/en/news-and-events/eth-news/news/2020/12/save-the-reef.html, (15.12.2020).

12 A novel coral restoration concept, https://www.youtube.com/watch?v=wqRAvUp89z4, (27.03.2018).

13 Ruth Gates Series,
https://www.youtube.com/watch?v=wcSv3pkpfQQ, (05.03.2018).
https://www.youtube.com/watch?v=UEVlfbALNBY, (26.02.2018).
https://www.youtube.com/watch?v=pSjXQud_174, (19.02.2018).
https://www.youtube.com/watch?v=ECPQw-v_3Jg, (12.03.2018).

14 Next generation corals undergo first field tests on the Great Barrier Reef, https://www.aims.gov.au/docs/media/latest-releases/-/asset_publisher/8Kfw/content/next-generation-corals-undergo-first-field-tests-on-the-great-barrier-reef, (02.07.2019).

Joëlle Reichmann  ~ It Matters


Kunstgeschichte wird erzählt, bedacht, diskutiert und gelebt. Sie wird gelebt, indem wir lernen sie zu verstehen. Damit erlernen wir auch ein Konstrukt, in welchem sich die Geschichten geformt haben und stets formen. Wir erlernen Eigenheiten, die nicht unsere sind, aber zu unseren werden, indem sie sich mit unseren Realitäten vermischen. Hier Grenzen zu ziehen, macht wenig Sinn. Denn was Realität ist, ist schwer zu bestimmen. Dieses Essay ist ein Versuch Geschichten zu erzählen, die drei künstlerische Positionen und Donna Haraways Idee des Chthulucenes1 in einem Kunstbegriff zusammenbringen.
Donna Haraway eine Professorin und Autorin, welche sich im Spannungsfeld Naturwissenschaft, Feminismus und Postmodernismus bewegt, erwähnt in ihrem Vortrag über ihr Buch „Staying with the Trouble“2 das Zitat von Virginia Woolf und Denkansätze von Anthropolog*innen wie Marilyn Strathern. Diese Worte (Abb.1) besagen, dass es sehr wohl zählt was wir denken, sagen und leben und dass Muster veränderbar sind, dass man Geschichten neu erzählen kann und soll. Laut Donna Haraway ist das Anthropozän, das Zeitalter in dem der Mensch als wichtigster Einflussfaktor von Umweltbedingungen auf der Erde zählt, nicht weit genug gedacht. Es bringt zuviele Grenzen und Unstimmigkeiten mit sich. Haraway plädiert für eine Verknüpfung der Einzelteile, des Zusammenlebens und der Freiheit der Imagination, welche zu einem Nachhaltigeren Sein führen kann. Dafür verwendet sie den Gegenbegriff Chthulucene, der ein neues Zeitalter markiert, indem eine Öffnung der Imagination, des Wahren, der Planetenbewohnern und allem was zu unserem gemeinsamen Zusammenleben dient, verbindet.
Die sogenannten String Figures3, sind Figuren die diese Verknüpfungen aufzeigen. Meine String Figure in dieser kurzen Beleuchtung zu einer meiner Positionen zur Kunstgeschichte, sind die Ökosysteme der Korallen. Die folgenden drei künstlerischen Positionen, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen, sind künstlerisch-kollaborative und auch künstlerisch-wissenschaftliche Projekte. Die Werke sind hoch politisch auf eine sehr sinnliche Art und Weise und können als gewaltfreier Aktivismus gelesen werden.

Die Zwillingsschwestern Margret und Christine Wertheim erforschen im Institut for Figuring4 die poetischen und ästhetischen Dimensionen von Mathematik und Engineering als Antwort auf die anthropogene Krise. „The Crochet Coral Reef“5 (Abb. 2) ist eine fortlaufende Arbeit innerhalb dieses Instituts. Das 2005 lancierte Projekt ist eine Antwort auf das Ausbleichen des australischen Great Barrier Reefs, welches die grösste Ansammlung von Korallenriffen auf der Welt ist. Folgen des Klimawandels, wie der Anstieg der Meerestemperatur oder die Versauerung der Meere und Verschmutzung der Meere, führen zu einem Sterben der Tiere und deren Ökosysteme.
Seit Beginn des Projekts „The Crochet Coral Reef“ häkeln über 10’000 Frauen und Männer verschiedenste korallenartige Einzelteile, welche dann zu grossen Skulptur zusammengeführt werden. Es werden auch Plastikabfälle aus dem Meer zum häkeln verwendet. „The Crochet Coral Reef“ wurde schon an vielen Orten der Welt ausgestellt. 2021 wird es eine weitere Ausstellung in Helsinki geben, bei der während der Pandemie gehäkelte Werke gezeigt werden. „The Crochet Coral Reef“ begeistert und bewegt Menschen auf der ganzen Welt, sich daran zu beteiligen. Sei es als gehäkelter Beitrag oder im Schenken der eigenen Aufmerksamkeit. Diese Korallenkreaturen ziehen den*die Betrachter*in in ihren Bann. Die Darstellung und Wertschätzung dieser Überlebenswichtigen Spezies weckt Sensibilität in Bezug auf den Klimawandel, bringt Menschen zusammen und stärkt den Gemeinsinn und bezieht sich auf das komplexe mathematische Prinzip der hyperbolischen Geometrie auf eine konkrete Art und Weise.

Das kollaborative Projekt „Whitening Out“ (Abb. 3) des Kollektivs Biotop der Relevanz6 aus Luzern befasst sich auch mit dem Absterben von Naturwundern und Ökosystemen. In ihrem Projekt „Whitening Out“ rufen sie Menschen aus der Umgebung Luzern dazu auf, gemeinsam Korallen aus Ton zu modellieren. Im Prozess des Machens verwendet das Kollektiv die Korallen als String Figure, um im Austausch mit den Teilnehmenden über aktuelle Themen der Umweltkrise, deren Faktoren, und Auswirkungen zu diskutieren und machen auch darauf aufmerksam was jede Person selbst dazu beitragen kann. Die bei der Aktion entstandenen Korallen werden als Installation im Brunnen unterhalb des Löwendenkmals ausgestellt. Dort bleiben sie einige Monate für die Öffentlichkeit sichtbar und veralgen sogar, so wie es auch im Meer mit den Skeletten der abgestorbenen Korallen geschieht.7
Kunst, Wissenschaft und Politik verschmelzen hier auf eine sehr sinnliche Art und Weise.
Das Wissen über Klimakatastrophen wird im Kollektiv durch Kunstschaffen sensibilisiert. Die künstlerische Praxis vermischt sich mit wissenschaftlichen Fakten und wird in den öffentlichen Raum gebracht. Die dramatischen, wunderschönen, weiss leuchtenden Objekte ziehen durch ihre Ästhetik an und haben gleichzeitig eine starke und aktivistische Botschaft.

Das Werk „Moduls“ (Abb. 4) von der Serie Beneath the Sea, wie es im Kunstkontext betitelt ist, ist ein interdisziplinäres Projekt vom Team rrreefs8 bestehend aus der Künstlerin Marie Griesmar9 und den zwei Naturwissenschaftlerinnen Ulrike Pfreundt10 und Hannah Kuhfuss. Ihre künstlerisch-wissenschaftliche Forschung besteht darin, die optimale Form eines 3D-Drucks aus Ton zu finden, um einen optimalen Grundbaustein11 für das Wachstum von Korallen zu erschaffen. Diese Keramikmodule werden sinnvoll aufeinander gesetzt und fangen somit den Wellengang vor der Küste ab. Ihre Hauptaufgabe ist es jedoch als neuer Lebensraum für Korallenlarven zu fungieren. Korallen können sich vegetativ wie  auch geschlechtlich vermehren. Die Bausteine sind als Hilfen für die sexuelle Vermehrung konzipiert und werden dafür während der Paarungszeit der Korallen an der Küste Kolumbiens ins Meer, neben die fast komplett verbleichten Korallenriffe, platziert. Die während der Paarungszeit entstehenden Korallenlarven, können an den Bausteinen andocken, zu Polypen heranwachsen und sich schlussendlich zu Korallen ausbilden. Diese genetische Vermehrung der Tiere garantiert die Biodiversität der Tiere und deren Ökosystem.12 Das aus Zellen bestehende Gewebe der Korallen lebt nämlich in Symbiose mit Algen. Dank der Algen können die Korallen überleben und wachsen. Sie bieten einander Nahrung und werden  zusammen grösser und stärker. Die Hilfe des Menschen zur Fortpflanzung von Korallen ist eine der Techniken die Korallenriffe zu retten. Die andere Technik, von der Meeresbiologin Ruth Gates entwickelt,13 befasst sich damit die stattfindende Evolution, also den Prozess der Anpassung der Tiere an die gegebenen Umstände, zu unterstützen und voranzutreiben, womit die Korallen schneller resistent gegenüber Umwelteinflüsse werden.14
Dieses Werk „Moduls“ entfernt sich am meisten von dem uns bekannten Kunstbegriff. Es interveniert wissenschaftlich angewandt direkt in das bestehende Problem. Es ist eine direkte Hilfestellung für die Korallen und den Kampf gegen das Ausbleichen der Riffe. Und gleichzeitig findet es seinen Platz in der Kunst und Architektur.
Kunst darf Dimensionen aber auch Funktionen annehmen, die bisher ungewöhnlich waren. Es ist essenziell den Kunstbegriff immer wieder zu revolutionieren. Funktionen, Autor*innenschaften, Materialien, Prozesse und weiteres dürfen sich vermischen und neue Geschichten erzählen. Kunst darf sogar Leben retten und deshalb wirken diese drei künstlerischen Arbeiten ganz im Sinne des Chthulucenes.