Abb.1


Notes

1 Donna Haraway. Staying with the trouble -. Making kin in the Chthulucene, Durham, London: Duke University Press 2016, 16.

2 Dies gilt für die Ausgabe 2005/7, verwendet zu meiner Zeit am Gymnasium, eine angepasste Zählung in der neusten Auflage wird erfolgen.

3 In meinem Fall waren wir sogar eine reine Frauenklasse.

4 Women Artists. Flavia Frigeri. Thames & Hudson. S. 12-15.

5 Lexikon der Heiligen und biblischen Gestalten. Hiltgart L. Keller. Reclam. S. 353-354.

6 https://www.youtube.com/watch?v=cNsg6RnlJtI&ab_channel=TheNationalGallery, 13.03.2021.

7 Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunstgeschichte. Sozialgeschichtlich und patriarchatskritisch. Beat Schneider. Zytglogge Verlag. S. 224-236.

Réka Szücs
~ Die zu füllenden Lücken – Künstlerinnen im BG-Unterricht



Fangen wir mit einem kurzen persönlichen Disclaimer an: Ich liebe Kunstgeschichte. Sie ist Inspirations- und Wissensquelle zugleich, erlaubt mir in eine ferne Zeit oder in hochaktuelle Debatten einzutauchen und macht ein einzelnes Bild durch dessen Kontextualisierung so viel reicher. Nun gibt es aber nicht DIE Kunstgeschichte. Sollte es vielleicht auch nicht geben.  Und so werde ich mich in diesem Beitrag auch auf einen Aspekt der Kunstgeschichte beschränken.

Wie schon Donna Haraway sagte «It matters what matters we use to think other matters with; it matters what stories we tell to tell other stories with (..)»1.Und hier entsteht in unserer aktuellen Bildungslandschaft ein riesen Problem.

Es kann nicht sein, dass ich in meinem Kunstgeschichtestudium gerade mal in einem Genderseminar weibliche Künstlerinnen und Perspektiven intensiv kennengelernt habe, geschweige denn, dass die Informationen zu genderpolitischen Themen auch für Akademiker:innen sprachlich schwieriger zu verstehen sind.

Noch schwerwiegender ist es aber, dass in dem auf gymnasialem Niveau verwendete Lehrbuch «Geschichte der Malerei» von 183 Künstler:innen gerade mal VIER Personen weiblich sind.2 Dies in einem Schwerpunktfach, wo die Mehrheit der Schüler:innen aus Frauen besteht3. Wenn wir in einer Bildungssituation, wo das Ziel nicht nur die Erlangung motorischer Fähigkeiten besteht, sondern auch Interesse oder gar Leidenschaft für das Fach erweckt werden sollte, fehlt somit die allereinfachste Form der Identifikation, das Geschlecht, komplett weg, oder aber erweckt unterbewusst auch das Gefühl, selber niemals gut genug zu sein, denn «es gab ja keine grossartigen Künstlerinnen». Mal ganz davon abgesehen, was so eine Lücke für eine Ungerechtigkeit und verpassten Reichtum an Wissen und Perspektiven darstellt.

Dabei gibt es so viele grossartige Künstlerinnen. Nicht nur in der Gegenwart, sondern seit dem Beginn der Signierung von Werken in der Spätzeit, beziehungsweise wahrscheinlich schon viel früher und dies in jeder Stilrichtung. Heute ist es auch nicht sonderlich schwierig ihre Namen zu finden.

Mein Ziel ist es nicht Lehrpersonen an den Pranger zu stellen. Ich habe Verständnis dafür, dass man sich nach einem langen Arbeitstag für altbekannte Muster entscheidet und keine Kapazität mehr für stundenlange Übersetzungsarbeiten hat. Die Sammlungen zu Künstlerinnen, die mir bekannt sind, konzentrieren sich entweder auf das Werk, das Thema oder auf eine kurze Biografie. Die Informationen sind vorhanden, doch die Zeit zum Zusammentragen kann dazu fehlen. Genau deshalb müssen wir eine Alternative schaffen, die all diese Informationen zusammenträgt, jetzt sofort einsetzbar ist und keinen Raum mehr für Ausreden bietet. Deshalb folgt nun exemplarisch ein Beitrag zu Artemisia Gentileschi, der versucht, ihren Lebenslauf, ihr Werk und dessen historischen Kontext mit dem Fokus auf Frauen aufzuzeigen.

Wie es meine Kollegin Nora Ryser so schön formulierte: Das Erzählen dieser einen Geschichte wird jedoch noch lange nicht reichen, es braucht tausende derer, und sie müssen öffentlich und niederschwellig zugänglich sein, damit sie irgendwann eine Selbstverständlichkeit in unserer (Kunst-)Geschichtsschreibung erlangen können.

Zwischen Schande und Ruhm - Artemisia Gentileschi

Artemisia Gentileschi wurde am 8. Juli 1593 in Rom geboren. Sie lernte in der Werkstatt ihres Vaters ihr Handwerk. Ihre ersten Bilder malte sie mit 17 Jahren. Für diese Zeit unüblich, widmete sich Gentileschi in ihren Bildern biblischen und mythologischen Szenen. Frauen malten damals nämlich hauptsächlich Stilleben oder allenfalls Portraits.

1612 wurde sie durch ihren Lehrer vergewaltigt, was zu einem öffentlichen Prozess führte. Sie wurde bei den Befragungen gefoltert und musste Rom schliesslich wegen ihrem geschädigten Ruf verlassen.
Artemisia heiratete zur Wiederherstellung ihres Rufes einen Maler und zog nach Florenz, wo sie als erste Frau an der Accademia del Disegno studierte.
Dank ihrem Ruhm kehrte sie 1623 zurück nach Rom und hatte nach 1630 in Neapel ihre eigene Werkstatt.
1637 wurde sie an den englischen Königshof abgeworben, wo sie das Deckengemälde des Queen’s House in Greenwich mitgestaltete.
Nach dem Auftrag kehrte Gentileschi nach Neapel zurück. In ihren letzten Jahren litt sie unter gesundheitlichen sowie finanziellen Schwierigkeiten und starb schliesslich am 31. Januar 1654.4

Judith und Holofernes – eine persönliche Vendetta?
Das Werk Judith enthauptet Holofernes malte Artemisia Gentileschi um 1620 in Florenz. Das Gemälde wurde mit Öl auf Leinwand gemalt und hat die Masse 199 x 162.5 cm. Es befindet sich heute im Vasarikorridor in den Uffizien in Florenz.

Das Werk stellt den Tötungsakt in der biblischen Geschichte von Judith und Holofernes dar. Judith entschliesst sich dazu, die belagerte Stadt Bethulia zu retten. Der betrunkene Feldhauptmann Holofernes war von ihrer Schönheit entzückt und bat Judith in sein Schlafgemach. Dort schnitt sie seinen Kopf ab, steckte ihn in einen Sack und hängte diesen an der Stadtmauer auf.  Judith befreite durch den Mord an Holofernes ihr Volk vor dem Tyrannen und gehört dadurch zu den biblischen Heldinnen, die Artemisia ein Leben lang beschäftigten.5

Dieses Motiv malte die Künstlerin mehrere Male, wovon heute noch drei Varianten vorhanden sind. Es ist einfach, die Geschichte der Judith mit dem Trauma von Gentileschi in Verbindung zu bringen, doch würde diese Reduktion der Künstlerin nicht gerecht werden.

Die brutale und ausdruckstarke Darstellung der alttestamentlichen Szene bildet Judith, im Gegensatz zu anderen Zeitgenoss*innen, nicht passiv oder unbeteiligt, sondern voller Entschlossenheit handelnd ab. Artemisia schafft es, in ihren Bildern mitzudenken und sich in die Situation einzufühlen. So hilft die Magd Holofernes herunterzudrücken, weil Judith es kaum alleine geschafft hätte, statt, wie es im Alten Testament geschrieben steht, nur wache zu stehen.6

Von Hexen und Monster – Das barocke Zeitalter
Die Zeit zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert war in Europa sowohl vom Absolutismus wie von grossen Widersprüchen zwischen Nationalstaaten, gesellschaftlichen Schichten und in religiösen Fragen geprägt. Durch die Religionskriege des 16. Jahrhunderts wurden die bestehenden Machtverhältnisse in der gesellschaftlichen Ordnung stark erschüttert. Das aufgeklärte Bürger:innentum wurde stärker, der Adel beharrte jedoch auf seinen Privilegien und setzte alles daran, diese zu demonstrieren und die Macht an sich zu reissen. Damals wurde man in einen Stand hineingeboren und musste die Gesetze und Grenzen ihrer Gruppe einhalten. Die König:innen begründeten ihre höhere Stellung dadurch, von Gott auserwählt zu sein, so galten keinerlei Gesetze für sie. Sie kontrollierten auch die Mehrheit der Wirtschaft. Dabei orientierte sich diese absolutistischen Monarchien in Europa an der Diktatur des römischen Kaisertums der Spätzeit.

Die Repräsentation von Machtinhaber:innen war eines der wichtigsten Mittel ihrer Propaganda. Die pompöse Selbstdarstellung spielte eine zentrale Rolle am Hofe. Diese Darstellungen hatten aber meistens eher wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Die Auftraggeber:innen waren geistlich oder adelig, doch verfolgten sie das gleiche Ziel: die Welt von ihren Vorstellungen zu umgeben. Dafür eigneten sich Allegorien, also bildliche Darstellungen von abstrakten Konzepten, Ideen oder Begriffen, bestens. Für die Verbildlichung wurden primär Frauen verwendet, nicht als Verkörperung ihrer Selbst, sondern als reines Konzept. Sie werden nicht beim Namen genannt, sondern stehen für eine Idee, zum Beispiel für die Gerechtigkeit oder die Liebe. Auch in anderen Kunstwerken wird die Frau als Objekt abgebildet, ist gleichermassen Sinnbild für sexuelle Interessen wie für sexuelle Ängste.

In der nicht-adeligen Welt war die Frau nicht bessergestellt. Die weniger privilegierten Frauen waren Billigarbeitskräfte in Fabriken, andere arbeiteten als Prostituierte. Die Hausfrauen hatten es auch nicht viel besser, die «erzieherische» Gewalttätigkeit durch den Ehemann wurde in vielen philosophischen Schriften im 17. Jahrhundert legitimiert und als förderlich bewertet. Frauen wurden als passive Objekte angesehen, die stets vom Mann geformt werden konnten und ihm gehorsam sein mussten. Die grosse Mehrheit der Frauen wurde von dem beruflichen und öffentlichen Leben ausgeschlossen. Sie hatten weder in religiösen Handlungen ein Mitspracherecht noch in der Politik oder in ihrem eigenen Leben. In Schriften, wie dem 1618 in deutscher Sprache erschienenen Traktat «Ob die Weiber Menschen seyn oder nicht?», diskutierte man darüber, ob eine Frau überhaupt ein Mensch sei, oder doch nur eine Missgeburt oder ein Monster. Die im 15. Jahrhundert beginnenden Hexenverfolgungen, die auf einem ähnlichen Bild basierten, zogen sich bis in das späte 18. Jahrhundert hinein und forderten zahlreiche Frauenleben.7

Wie die Frauen muss auch die Natur in ihre Schranken gewiesen werden, so war die Haltung in der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung. Auch die Wissenschaft war stark patriarchal geprägt: über die Natur soll geherrscht werden, Mann soll in sie eindringen und ihre Geheimnisse entreissen. Wissenschaft, wie wir sie heute kennen, entstand in diesem patriarchalen Kontext, die neuen Wissenschaftspraktiken aus dem 17. Und 18. Jahrhundert bildeten die Grundlagen für spätere Entwicklungen wie jene der Aufklärung, aber auch für heutige Standards.7

Ausblick
Wie schon erwähnt, wird diese eine Geschichte noch lange nicht reichen. Eine Veränderung ist aber dringend nötig, und zwar jetzt. Deshalb haben wir eine Plattform lanciert, die möglichst viele Geschichten versammelt: femaison.ch