Abb.1


Notes

1 vgl. Kupka, Mahret Ifeama zitiert Asad Haider: Zur Solidarität unter Ungleichen. In: Texte zur Kunst. 2021. (aufgerufen am 15.03.2021: https://www.textezurkunst.de/articles/mahret-ifeoma-kupka-zur-solidaritat-unter-ungleichen/)

2 Woke meint hier eine Formulierung, die erhöhte Sensibilisierung für soziale Ungerechtigkeiten und Formen des Rassismus beschreibt.

3 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Gender Studies. 17. Auflage. Frankfurt 2014. S. 220.

4 Probyn, Elspeth: Queer Belongings. Eine Politik des Aufbruchs. In: Angerer, Marie-Luise (Hg.): Körper. Geschlechter. Identitäten. Wien 1995.

5 Ebd.

6 Do Mar Castro Varela, Maria und Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie.Eine kritische Einführung. 3. Auflage. 2020. S. 130.

7 nach Wolfgang Ullrich:  Darunter wird verstanden, dass Kunst zum wichtigsten Ingrediens einer exklusiven Lebenswelt der Erfolgreichsten in Wirtschaft, Film, Sport, Politik, Showbusiness geworden ist. Sie schätzen Kunst nicht mehr als geistige Position und Herausforderung, sondern als Status- und Distinktionssymbol: Kunst und Bedeutung, so seine These, entkoppeln sich. Ullrich,Wolfgang: Siegerkunst. Neuer Adel, teure Kunst. Berlin 2016.



Literaturverzeichnis


Ullrich, Wolfgang: Siegerkunst. Neuer Adel, Teure Kunst. Berlin 2016.

Haider, Aider: Zur Solidarität unter Ungleichen. In: Texte zur Kunst. 2021. (aufgerufen am 15.03.2021: https://www.textezurkunst.de/articles/mahret-ifeoma-kupka-zur-solidaritat-unter-ungleichen/)

Probyn, Elspeth: Queer Belongings. Eine Politik des Aufbruchs. In: Angerer, Marie-Luise (Hg.): Körper. Geschlechter. Identitäten. Wien 1995.

Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Gender Studies. 17. Auflage. Frankfurt 2014.

Appiah, Kwame Anthony: The Lies that bind. Rethinking Identity. Creed, Country, Colour, Class, Culture. London 2018.

Do Mar Castro Varela, Maria und Dhawan, Nikita:Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. 3. Auflage. 2020.

Die restlichen Abbildungen sind screenshots, entnommen aus einem Miro-Board, welches im Rahmen des Seminars „Transfer Kunstgeschichte“ unter der Leitung von Helena Schmidt und Dr. Maren Polte im Mai 2021 an der Hochschule der Künste Bern entstand.

Lena Hoppenkamps ~  EXI(S)T art history


> 2004: Die französische Modemarke Longchamp lädt die Künstlerin Tracey Emin zu einer Kollaboration ein. Sie soll ein neues Design für die klassische ‚Le Pliage Bag‘ entwerfen.

Emin entscheidet sich anlässlich der Kollektion ‚The International Woman‘ ihre persönlichen Erfahrungen als sogenannte internationale Frau beizusteuern. Wie der Begriff ‚International‘ im Kontext von Mode arbeitet, bleibt dabei undefiniert. Dafür hängt Emin oder die zuständige Marketingabteilung der Kollektion, dieser Formulierung kurzerhand das Narrativ, der nach der ‚true international love‘-Suchenden an. Sie bestätigen den Mythos der reisenden, single Frau­ - nicht nur single, sondern auch allein, deshalb auf der Suche nach der Liebe, die dieser Odyssee ein Ende bescheren könnte. Die Kommerzialisierung durch die Luxusmodemarke läuft perfekt: Die Serie ist limitiert, rund 200 Taschen werden produziert, jede von ihnen mit einer Signatur der Künstlerin und einer persönlichen Erinnerung Emins an einen Ort, an dem sie sich verliebt hat oder in den sie sich verliebt hat (die Sachlage ist diesbezüglich nicht ganz klar). Die Serie war schnell ausverkauft.

> it matters what stories we tell
Es gibt mehrere Narrative innerhalb dieser Geschichte, die es lohnen würde zu untersuchen. Sie eignet sich wunderbar für Streitschriften über High-Fashion, Sexismus und die wirtschaftliche Verwertung einer künstlerischen Praxis. Sie eignet sich aber auch dazu, eine Transformation des Denkens vorzuschlagen, ein In-Beziehungsetzen mit offenem Ende. Nur eins ist sicher: EXI(S)T Kunstgeschichte, das heißt so wie die Kunstgeschichte existiert, produziert und in ambivalenter Beziehung zu unserem eurozentristischen Verständnis kultiviert wurde, sollte sie nicht zuletzt in der Schule kontinuierlich geleakt werden. Radikaler gedacht: Der Kunstgeschichte ihre Autorität zu rauben, nicht um sie sich einzuverleiben, sondern um sie mittels thermischer Aufwinde ganz weit in die höchste Luftschicht herauf zu pusten und sie durch abgekühlte Luft in Milliarden Regentropfen umzuverteilen, wäre eine guter Anfang. Diese fielen dann in einem globalen Regenschauer auf die Erde zurück und könnten so überall fruchtbar werden und nicht nur im globalen Norden - bildlich gesprochen. Am Anfang steht aber vor allem eine kritische, dekonstruierende Sicht auf die Kunstgeschichte, ihre soziokulturellen Grundlagen, wie sie bisher geschrieben, gelesen und erzählt wurde. Die daraus resultierenden Entdeckungen machen es schwer in Begriffen wie Kunstgeschichte, Kunstwerken und Künstler:innen weiterzudenken. Genres, Episoden, Klassifizierungen wirken dann leicht überholt und identitär. Sie sind aber unabdingbar, um eine Zeitreise in die Gegenwart zu vollziehen. Die Zukunft könnte eine Selbstorganisation von Kunstgeschichten bedeuten, die mehr Fragen, als Antworten aufwirft. 

Emins Longchamp-Bag als sogenanntes ‚kulturanthropologisches Artefakt‘ auszulegen, ermöglicht es visuelle Bezüge herzustellen, die nicht nur kausal oder chronologisch funktionieren: Welche Aussagekraft hat ein zeitlicher Abstand von 17 Jahren und was macht das mit der einzelnen Empfindung von ästhetischen und gestalterischen Mitteln, die vielleicht nicht nur ein Kunstwerk in seiner Entität betreffen, sondern vielmehr eine kollektive Aussagekraft besitzen. Die Herstellungsart eines Kunstwerks, der zeitliche Kontext, die Rezeptionsweise…sind nicht zuletzt basale Aspekte der bisherigen Kunstgeschichte. So weit so gut.

> 2021
‘Always Me’, 13 Jahre später, lese ich als durchaus provokante und zynische Botschaft. Ein zeitgenössisches Deutungs-Scanning könnte wie folgt aussehen: Ich lese schnell ein hashtagAlwaysMe, und überlege, wenn dieses Hashtag eine Reaktion auf die #MeToo Bewegung wäre, wie würde es bedeuten? #Alwaysme könnte als zynisches Kommentar von Misogynist:innen und Anti-Feminist:innen in Reaktion auf die #MeToo-Bewegung gelesen werden. Nicht zuletzt dieser das Bild des Jammertums (nach dem Motto “It’s always me(too)”) und Männerfeindlichkeit anzuhängen. Eine andere Narrative könnte sein:  #AlwaysMe, als Kritik an einer kapitalistischen Selfcare-Kultur, an einer Hyperindividualisierung, mit der Aufforderung, doch nicht immer #AlwaysMe zu performen, sondern auch mal hinter die Lifestyle-Ökonomisierung zu schauen. Ob Emin ahnte, wie polarisierend eine Me-Formulierung 13 Jahre später, also 26 Hauptkollektionen und 26 Nebenkollektionen in der High-Fashion und nahezu 156 Kollektionen in der Fast-Fashion, wirken kann? Hat Kunst, vorausgesetzt die La Pliage Bag würde als Kunst gewertet werden, prophetischen Charakter?


> Was haben kollektive Selbstorganisation und gesellschaftstransformierende Kämpfe mit Kunstgeschichte zu tun?
Läuft diese nicht eher immer brav hinter der künstlerischen Praxis hinterher, also ist generell passiv (aggressiv)? Gab es überhaupt jemals den Anspruch derart umwälzerischer Motive innerhalb der Kunstgeschichte und ihres akademischen Dunstkreises? Wenn ja, warum ist dann das Jetzt so wie es ist? Und wenn nein, warum ist dann das Jetztso wie es ist? Beide Fragen haben ihre Berechtigung und natürlich ‘lohnt’ es sich die historische Vergangenheit auf Strukturen zu untersuchen, die Ungerechtigkeiten des Heute bedingen, um sie zu identifizieren, zu dekonstruieren um ihnen dann hoffentlich, hoffentlich in der Zukunft nicht mehr zu begegnen. Aber was passiert derweil in der Gegenwart?

Welches Bild von Kunstgeschichte besteht für die meisten Menschen? Eine Karikatur: Ein ‘Netter Onkel’, der Anekdoten aus der guten, alten Zeit erzählt. Meistens handelt es sich um Siegerkünstler1 der vergangenen 200 Jahre, Heldengeschichten männlich gelesener Subjekte, also die, die die Chance hatten überliefert zu werden. Die Geschichten sind säuberlich hintereinander, also chronologisch, sortiert. Sie hören sich spannend und vielsagend an, meistens werden sie häppchenweise und kurz erzählt, sodass es zu keiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Erzählten kommt. Der ‘Nette Onkel’ merkt in seinem gemütlichen Ohrensessel eines gutbürgerlichen Einfamilienhauses natürlich nicht sein übergriffiges Verhalten, der Geschichte, aber eben auch der Zukunft, in der zuhörenden, jüngeren Person manifestiert, gegenüber. Denn er bedient einen kanonischen, sich durch eine phallogozentrische Matrix erhaltenen Loop. Dieser Loop wird gespeist von Unterdrückungsmechanismen, Gewalt und einer bleiernen Ignoranz denjenigen gegenüber, die entweder ihre gesellschaftliche Intelligibilität aufgeben mussten, um wahrgenommen zu werden, oder die sich schlichtweg von Anfang an ihr Leben in ständiger Repression ihres Körpers und ihrer Arbeitskraft aufhielten, also gesunde, arme, kranke, mutige, visionäre - die Adjektive sind als exemplarisch zu sehen - weiße Frauen* und Schwarze Frauen*.

Ich bediene mich hier natürlich eines einfachen Stereotyps, wenn ich das Bild des netten, mit hoher Wahrscheinlichkeit weißen, Onkels aufnehme und gehe davon aus, dass die Menschen, die diesen Text lesen in ihrer Sozialisierung ebenfalls diesem Stereotypen begegnet sind.

Wenn ich aber sage, dass stereotypische Zuschreibungen aufgrund von Klasse, Herkunft und Geschlecht, Körper, die Diskriminierung zur Folge haben können, nur aufgelöst werden, wenn das Subjekt und seine Sozialisation in wechselwirkender Konstruktion gelesen werden, kann Kunstgeschichte, so wie wir sie kennen, das überhaupt leisten? Kann sie dementsprechend die historische Vergangenheit restrukturieren und neu erzählen für die Menschen, die in das Museum gehen, die Vorlesung besuchen oder Kunstgeschichte gar didaktisch erträglicher machen für die Nachfahr*innen der unterdrückten, ermordeten, bestohlenen Menschen, kurzum Menschen die betroffen sind/waren? Die Formulierung der Betroffenheit ist eine hinterlistige, sie scheint reflektiert, sie klingt nach Aufrichtigkeit, nach Einsicht, aber es fühlt sich nicht gut an betroffen zu sein. Denn es hat immer noch jemand darüber entschieden, zu treffen.

> it matters what we see and defines who we want to be
Reflexionen über die eigene Wahrnehmung und deren Prozesshaftigkeit und das In- Beziehung-Setzen der eigenen ästhetischen Erfahrung mit kulturellen oder künstlerischen ‘Produkten’ aus der Vergangenheit sind in meiner Vision von einer ‘kollektiven, kritischen und zeitgenössischen Kunstgeschichte’ impulsgebend. Ased Haider beschreibt in ‘Texte zur Kunst’ das Bedürfnis des Individuums nach gesellschaftlicher Anerkennung als größtes Problem der zeitgenössischen Identitätspolitik, es würde sie weniger zu einer revolutionären politischen Praxis machen, als zu einer individualistischen.2 Museen und kulturelle Institutionen bemühen sich in den letzten Jahren möglichst woke3zu sein: Queer-Washing beschreibt unter anderem das Phänomen, wenn große Museen in ihren Ausstellungen plötzlich identitär-repräsentativ vorgehen und kaum die Prägungen der Machtstrukturen hinterfragen. Die Intelligibilität innerhalb eines heteronormativen und phallogozentrischen Systems4 auf das Spiel zu setzen, kann nicht von Einzelpersonen getragen werden. Eine einzelne Auseinandersetzung mit den hier angerissenen Themen ist natürlich wichtig, um die eigene Identität zu begreifen, aber in meiner Vorstellung von, wie mit Kunst und Leben in der Zukunft umgegangen wird, steht die kollektive Selbstorganisation (von Kunstgeschichten) am Anfang.

Die Gender- und Medienwissenschaftlerin Elspeth Probyn wirft das Konzept eines queeren belongings auf, um der ontologischen Konnotation von Identität mehr Spielraum zu geben: "Ich benutze den Ausdruck belonging (Zugehörigkeit) lieber als identity (Identität), weil es mir dadurch möglich ist, nicht in Standorten denken zu müssen, sondern mich an all den kleinen Linien der Sehnsucht zu orientieren."5 Damit löst sie den Terminus Zugehörigkeit von dem der Identität ab, dessen Bedeutung immer an Ursprünglichem und Ursächlichem im Sinne ontologischer Festschreibung haften bleibt.

Das Begehren ist mit Probyn eine Methode des Sich-Verhaltens, welche unabhängig von einer statischen, geraden, gegenstandsbehafteten Positionierung arbeitet:

„Diese Problematik, die ich queer belonging nenne, ist im Wesentlichen mit der Bewegung zwischen Körpern und Ausgangspunkten befasst. Es geht (…) grundsätzlich um Milieus und nicht um Ursprünge.“6 Das Interesse an einem Milieu, welches abseits normierter Konzepte (von Geschlechtlichkeit) liegt, ist mit Probyn bereits Teil einer queeren Bewegung, da es ein Vielfaches an Perspektiven in sich trägt und keine monolithische Auffassung von ‚Sich-Selbst-in Bezug-auf-Welt-Sein‘ vertritt.

Das Bedürfnis wokezu sein offenbart ein Begehren, Teil einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung zu sein. Es ist wichtig diese Prozesse zu kritisieren und zu hinterfragen: aus welchen Gründen entscheidet sich eine Institution dafür eine woke Ausstellung zu ermöglichen? Gibt es sie, um den Menschen zuzuhören, die die eigenen Privilegien deutlich machen? Bei all diesen Fragestellungen kann es hilfreich sein die Unsicherheit, die von einem Wertesystem über richtig und falsch ausgelöst wird, welches eben aus dieser alten, dem netten Onkel zugehörigen Welt stammt, mitzuteilen und kollektiv zu bearbeiten. Die Postkolonialtheoretikerinnen Maria Do Castro Varela und Nikita Dhawan: „Wer lernen will, Zukunft aufzubauen, muss in die Lage versetzt werden, sich mit der Gewalt des ›So-geworden-Seins‹ auseinanderzusetzen.“7

Wir leben in einer Prä-apokalyptischen Zeit, unvorbereitet und verkrampft. Welche Rolle kann die Betrachtung von Kunst und wechselwirkend Kunst dabei spielen? Kunst löst ästhetische Erfahrungen aus. Und hat, wenn man dieser Definition folgt, damit durchaus befreiendes Potential, weil sie eine Differenz und so ein Dazwischen zu bisher Wahrgenommenen auslösen kann.

EXI(S)T Kunstgeschichte: Darüber hinaus beobachtete ich in der Auseinandersetzung mit diesem Thema, dass mit Blick auf den eigenartigen Status einer ‘kollektiven, kritischen, zeitgenössischen Kunstgeschichte’ und mit Blick auf die zeitgenössische Kunstproduktion die gesamte Performanz betroffen ist: diejenige des*der Kunstschaffenden, diejenige des:der Rezipierenden, diejenige des:der Kunsttheoretisierenden, schließlich die gesamte gesellschaftliche Performanz.